Maß für Maß
Schauspiel von William ShakespeareErzählt von Marc von Henning
Die Stadt Vienna treibt dem moralischen Ruin entgegen. Viel zu lange hat der regierende Herzog Vincentio dem unzüchtigen Treiben zugeschaut und Gnade vor Recht ergehen lassen. Damit das Laster nicht weiter um sich greift, soll ein zwar bestehendes, aber nie angewandtes Gesetz zum Einsatz kommen, welches Sittenlosigkeit hart bestraft. Der Herzog will sich aber nicht selbst bei seinem Volk unbeliebt machen und ernennt den jungen Puritaner Angelo zum Statthalter, während er selbst vorgibt, verreist zu sein. Angelo ist ein Muster an Integrität und Disziplin, so scheint es. Sofort will er ein klares Zeichen der neuen Strenge setzen und ein Exempel statuieren. Er verurteilt Claudio, der seine Liebste geschwängert hat, ohne mit ihr verheiratet zu sein, zum Tode. Denn auf Sex vor der Ehe steht nach dem nun praktizierten Gesetz die Todesstrafe.
Claudios Schwester, die schöne Isabella, eine angehende Nonne, fleht Angelo an, ihren Bruder zu verschonen. Und siehe da: Der strenge Statthalter ist selbst nicht so tugendhaft, wie er es von den anderen verlangt. Überwältigt von Isabellas Schönheit will er sich den Gnadenakt mit ihrer Jungfräulichkeit bezahlen lassen. Wenn sie sich nicht fügt, muss ihr Bruder sterben.
Was für ein skandalöser Fall von Machtmissbrauch! Shakespeare erweist sich in »Maß für Maß« aus dem Jahre 1604 einmal mehr als ein Meisterdarsteller menschlicher Abgründe. Unter der tugendhaften Oberfläche brodelt das Laster und je strenger die Gesetze, desto ausgebuffter die Heuchelei. Virtuos entwirrt Shakespeare die ausweglos erscheinenden Verhältnisse – ob am Ende zum Wohl oder Übel der handelnden Personen, das muss jeder Zuschauer für sich selbst entscheiden. Außerdem bevölkern eine ganze Anzahl skurriler Typen, die sich in absurd komische Situationen verstricken, die Szenerie.
Shakespeares Analyse zwischenmenschlicher Dynamiken im Umgang mit Macht aber geht in die Tiefe. Sind psychische Deformation und Korrumpierbarkeit unvermeidbar, wenn Menschen Gewalt über andere haben und niemand sie mehr kontrolliert? Mit dem Titel »Maß für Maß« spielt Shakespeare auf ein in der Bibel in Abwandlungen häufiger zu findendes Motiv aus dem Matthäusevangelium an: »Denn wie ihr richtet, werdet ihr gerichtet werden; und mit welchem Maß ihr messt, wird euch zugemessen werden.« (Matthäus 7: 2) Marc von Henning erzählt dieses Stück für das Theater Heilbronn noch einmal neu.
Sie möchten mehr über die Inszenierung erfahren? Dann hören Sie doch in unsere 35. Podcastfolge hinein.
Im Anschluss an die Vorstellungen am Freitag, den 6. Januar 2023 und Freitag, den 3. Februar 2023 laden wir Sie im Anschluss an die Vorstellung zum Publikumsgespräch an unsere »StreitBar« im Oberen Foyer ein. Gemeinsam mit den jeweiligen Inszenierungsteams möchten wir mit Ihnen ins Gespräch kommen. Diskutieren Sie mit uns bei einem Glas Wein über die Inszenierung und Themen des Stückes, die Sie und uns bewegen. Wir freuen uns auf Sie.
Arnim Bauer | Ludwigsburger Kreiszeitung | 04.10.22
Mit »Maß für Maß« gelingt Marc von Henning am Heilbronner Theater eine veränderte Perspektive auf das altbekannte Stück von William Shakespeare. (…)
Die entscheidende Veränderung, die von Henning seiner Fassung mitgibt: Er nimmt die eigentliche Nebenfigur der Marianna und doppelt sie. Er macht aus ihr die Erzählerin, die vierzig Jahre nach dem Geschehen aus einiger Distanz die Geschichte erläutert, kommentiert, bewertet. In dieser für den Abend mit entscheidenden Rolle erleben wir Sabine Unger. Und sie ist genau die richtige Darstellerin dafür, immer wieder leise und doch eindringlich, in der an sich von Männern geprägten Geschichte die Sicht der Frauen, die auf der Bühne nur als reagierende Opfer vorkommen, darzustellen, die Geschichte aus ihrer Perspektive neu zu erzählen.